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archiv & bibliothek der sozialen bewegungen
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Papiertiger
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"Archive der neuen sozialen Bewegungen -
Gedächtnisse der Bewegungen oder linke Altpapiersammlungen?"

Die bislang in den neuen sozialen Bewegungen und in der Linken jenseits der Parteien produzierte Textmenge ist riesig und unüberschaubar. Kein Privatmensch hat Platz für die Aufbewahrung auch nur eines Teils dieses Materials. Wo ist es zugänglich? Interessierte, die einen bestimmten Text suchen, die wissen möchten, wann denn jetzt diese oder jene Demonstration, Kampagne oder Debatte stattfand oder was es mit den wilden Streiks 1973 oder der Anti-IWF-Kampagne 1987/88 auf sich hat, finden in einem Bewegungsarchiv reichlich Material. Für Menschen, die zu Themen aus dem Kontext der neuen sozialen Bewegungen und der politischen Opposition forschen, sind diese Archive hilfreich und oft unterschätzte Sammlungen von Primärquellen.
Linke und soziale Bewegungen sind - dies unterscheidet sie von Organisationen oder gar Parteien - schnelllebig. Was vor fünf oder sechs Jahren aktuell und heiß debattiert war, ist heute meist schon wieder vergessen oder für sich heute Politisierende unbekannt. Erst recht gilt das für weiter zurückliegende Ereignisse oder Debatten. Bewegungen interessieren sich auch kaum für das Sammeln und Abheften ihrer schriftlichen Zeugnisse. Ein kollektives Gedächtnis kann sich so nicht herausbilden, die Vermittlung historischer Ereignisse verbleibt in individueller Hand und wird Resultat persönlicher Zufälle. Die Geschichtslosigkeit der Linken ist so notorisch wie vielbeklagt.

Der Zugang zu Dokumenten der neuen sozialen Bewegungen ist schwierig, da zwar in Universitätsbibliotheken und Stadt- und Staatsarchiven auch Quellen zu diesen Bewegungen gesammelt werden, dies aber meist unsystematisch und in eher kleineren Beständen geschieht, ja auch die nötige inhaltliche Kenntnis der besonderen Verhältnisse dieses Feldes fehlt. Die einzigen Orte, an denen die vielfältigen Materialen der sehr heterogenen neuen sozialen Bewegungen systematisch gesammelt werden, sind die Archive, die diese Bewegungen selbst ausgebildet haben und die ich hier Bewegungsarchive nennen will. Hinzu kommen die wenigen institutionalisieren Archive, die sich auf diesen Schwerpunkt spezialisiert und den Vorteil haben, über finanzielle Ressourcen und archivwissenschaftliches Know-How zu verfügen, das den Bewegungsarchiven oft fehlt. Diese Archive dokumentieren alle die Geschichte sozialer Bewegungen und Kämpfe, zumindest deren schriftliche Ausdrücke. Sie sind jenseits der Erinnerungen von Einzelpersonen oder der Zeugnisse dritter (etwa der Staatsschutzbehörden oder der bürgerlichen Presse) die Orte, an denen sich Quellen finden lassen.

Die Archive die hier interessieren, sind in drei Formen zu unterscheiden: In Bewegungsarchive, institutionalisierte (bzw. staatliche) Archive und Bibliotheken sowie die Mischformen. Sie unterscheiden sich in inhaltlicher Ausrichtung, dem Grad der institutionellen Unabhängigkeit und ihren Sammelschwerpunkten und -umfang erheblich.

Bewegungsarchive zählen sich in ihrem Selbstverständnis zur im weitesten Sinne sozialen Bewegung. Es gibt ungefähr zwei Dutzend größere von ihnen in Deutschland und noch sehr viele kleinere. Sie verstehen sich als Teil der politischen und kulturellen Opposition und sind Teil der Bewegungen, zu denen sie auch Material sammeln und aufbereiten. Diese Einbettung in die Strukturen der Protestbewegungen bringt für die Archive etliche Vorteile mit sich, über die staatliche Archive nicht verfügen. Zum Beispiel besteht zwischen MaterialspenderInnen und Archiv ein persönliches Vertrauensverhältnis, das die Überlassung erst möglich macht. Bei der Überlassung kann es sich dann um Umsonstabonnements von aktuell noch erscheinenden Zeitschriften oder komplette Nachlässe von Privatpersonen oder aufgelösten Initiativen handeln. Die Zusammenarbeit unter den Archiven ist jenseits des sporadischen Tausches von doppeltem Material eher gering, was auch auf die Arbeitsüberlastung der ehrenamtlich arbeitenden BewegungsarchivarInnen zurückzuführen sein dürfte. Die meisten Archive sind aus einer Privatinitiative entstanden und in einem politisch-sozialen Zentrum der politischen Linken beheimatet. Sie verfügen durchweg über geringe Finanzmittel und werden ohne staatliche Zuschüsse betrieben. Die Kontinuität hängt an wenigen Personen, manchmal nur an einer/m einzelnen. Das Ansehen der ArchivarInnen ist in der Restszene eher schwierig, sehen doch viele keinen Sinn darin, überhaupt Material aufzubewahren. Andere sind gar der Meinung, daß Sammeln und Ordnen sowieso ein (tendenziell) männlicher Wesenszug sei. Wahr daran ist, daß die allermeisten Szene-ArchivarInnen männlich sind. Grundsätzlich werden die Archive innerhalb der Szene aber toleriert, und wenn sie an einen Infoladen oder ein politisches Zentrum angebunden sind, oder durch intelligente inhaltliche Aktivitäten auf sich aufmerksam machen, auch unterstützt. Die größeren, professionelleren Bewegungsarchive, wie etwa in Freiburg oder das afas in Duisburg werden auch von der akademischen Forschung frequentiert.

Die Archive verfügen. da sie am einfachsten zu archivieren sind, über einen sehr großen Bestand an Zeitschriften sowie einen umfangreichen an Broschüren. Den Großteil macht graue Literatur aus und auch etliche "illegale" Literatur ist zu finden. Graue Literatur sind Veröffentlichungen, die nicht über den Buchhandel beziehbar sind. Meist verfügen sie auch über Bücher, Flugblätter und Plakate. Alle Archive suchen noch Material. Zuviel wird von Privatmenschen und Institutionen achtlos weggeworfen, findet nicht den Weg in ein Archiv und ist damit verloren. Gerade seltene oder ältere Publikationen oder die mit nur lokaler Verbreitung sind sehr gefragt.

Die Nutzung der Bewegungsarchive ist unterschiedlich, werden die einen sehr viel von heute politisch Aktiven frequentiert, berichten andere, dass sie nur dann aufgesucht werden, wenn die Geschichte sozialer Bewegungen, und damit die eigene Geschichte und Praxis, an der Universität Thema ist, und die InteressentInnen Material für ihre Hausarbeit suchen. Vielleicht sind Bewegungsarchive also doch nur riesige Altpapiercontainer mit Anspruch, die fast niemandem nutzt?
Die größten Bewegungsarchive, die überregional und vor allem themenübergreifend zu neuen sozialen Bewegungen sammeln, sind Papiertiger in Berlin und das Archiv der sozialen Bewegungen in Hamburg. Über große Bestände verfügt noch das Archiv der sozialen Bewegungen in Freiburg, Die TTE-Bücherei in Köln und das alhambra-Archiv in Oldenburg. Das Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg hat einen regionalen Schwerpunkt; es verfügt über umfangreiches Material aus Nordrhein-Westfalen, sammelt aber auch darüberhinausgehend, wenn dieses Materialien für die Entwicklung der Bewegungen in Nordrhein-Westfalen wichtig waren. Etliche der Bewegungsarchive wurden schon Mitte bis Ende der 80er Jahre gegründet: Diejenigen in Hamburg und Freiburg, das afas in Duisburg, das Umweltzentrum Münster, Papiertiger in West- und die Umweltbibliothek in Ost-Berlin. Eine zweite Gründungswelle gab es Mitte der 90er Jahre: alhambra-Archiv Oldenburg, Infoladen Leipzig, sowie das Projekt Archiv in Oberhausen. Neugründungen sind ebenfalls zu verzeichnen. In Bremen und in Jena sind im Jahr 2000 linke Archive gegründet worden. Anfang 1999 mußte die schon 1986 gegründete und vor allem durch ihren umfangreichen Bestand zur Opposition in der DDR einzigartige Umweltbibliothek in Berlin-Prenzlauer Berg ihre Pforten schließen, ein Großteil der Bestände wurde vom "Thüringer Archiv für Zeitgeschichte" - das den Schwerpunkt "DDR-Opposition vor und nach der Wende" hat - übernommen. Das Archiv verlor aber bald darauf seine genutzten Gebäude und sucht zur Zeit in Jena eine neue Bleibe.
Um anhand eines Beispiels eine Vorstellung von den Beständen zu geben, hier die Angaben des Papiertiger: Dieses 1985 gegründete Archiv verfügt über 3000 Zeitschriftentitel. Die 4500 Bücher sind nach der selben inhaltlichen Systematik aufgestellt wie die 1800 Ordner mit Flugblättern, Broschüren und Zeitungsausschnitten. "

Auszug aus: Bernd Hüttner: "Archive sozialer Bewegungen, Eine Einführung mit Adressenverzeichnis", Schriftenreihe zu Bildung & Wissenschaft der AStA Uni Bremen, Band II, Januar 2002; ISBN-NR.: 3-935849-00-1
Bestelladresse: AStA Universität Bremen, Bibliotheksstrasse/StudentInnenhaus, 28359 Bremen oder: asta@uni-bremen.de

(Nachtrag in eigener Sache: Die Bestandsangaben zum Papiertiger sind inzwischen überholt.)

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